Zweiter Teil des Reiseberichts von Birger Koch nach Uschgorod (Ukraine) im Januar 2024. Ein erster Kontakt und intensiver Austausch mit der „Uschgorod Special School“ für Kinder mit Gehörproblemen wurde aufgenommen. Das Interesse seitens Schule, Schüler_innen und Lehrerschaft wurde geweckt.
Birger Koch berichtet weiter über seine Eindrücke und Erlebnisse.
Dienstag:
Heute morgen hatten wir bereits zwei Mal Luftalarm. Der wird landesweit ausgelöst, sobald Russland den ukrainischen Luftraum angreift. Das machen die heute zum Beispiel mit Kampfflugzeugen, die über dem schwarzen Meer aufsteigen und so aus großer Höhe mit Ihren Raketen in drei Minuten Charkiv und Kiew erreichen. Landesweit werden dann alle öffentlichen Gebäude geräumt und die Menschen daraus müssen den Keller des Gebäudes aufsuchen.Das ist völlig skuril, wenn man dabei im Hotel in Uschgorod am Frühstückstisch seinen Kaffee schlürft und das Honigbrot isst, während irgendwo 1.000 Kilometer entfernt gerade Wohnungen und Infrastruktur zerstört und Menschen verletzt oder getötet werden. Da leben ja auch Kinder.
Für mich bleibt die Situation unfassbar surreal. Die Situation in der Ukraine ist erschreckend und erschreckend normal zugleich. Natalia, eine Lehrerin für klassisches Ballet begleitet uns. Die interessierte, humorvolle, lebenslustige Frau vom Vortag hat sich in eine einsilbige Gestalt am Handy verwandelt. Sie hat Verwandte in Charkiv.
(…)
Gestern in der Schule wollten Polizisten einen Elektriker von der Baustelle mit in die Kaserne nehmen und haben sich nur gegen eine „Gebühr“ von 500 € davon abhalten lassen. Mir erscheint das unfassbar, wie eine notwendiges Kanonenfutter in einem Krieg, den keine Seite gewinnen wird. Ein Elektriker an der Front wird in der Schule kein Kabel mehr verlegen können. Wer soll ihn ersetzen?
Angeblich gibt es Überlegungen in der nächsten Mobilmachung Frauen zum Militärdienst zu verpflichten. Nicht, dass die das nicht könnten — aber wer bleibt dann bei den Kindern in der Schule?
Ich erinnere mich: Auf der Hinfahrt nach Uschgorod am Montag frage ich nach möglichen Friedensbemühungen. Eduard der Slowake fragt mich zurück, ob ich Frieden mit meinem Bruder schliessen wollte nachdem der meine Verwandten getötet, meine Kinder entführt und meine Frau vergewaltigt hätte. Mir fällt keine Antwort ein — ausweglos.
Natalia Ivanivna, die Schulleiterin der Spezialschule war derweil nicht untätig. Sie hat einen Termin in einer für uns sehr interessanten Einrichtung gemacht, dem Padiun (padiun.net). Es handelt sich um ein Bürgerzentrum xxl, einen kommunistischen Zweckbau, der die Idee eines „Kulturzentrum für alle“ auch heute noch bestens wieder gibt. Hier gibt es Werk- und Seminarräume, zwei Sporthallen, einen Veranstaltungssaal und viele, viele Möglichkeiten. Eine sehr moderne Idee in einem historischen Gewand, wie ich finde. Ein toller Ort. Die an den Wänden ausgestellten Bilder der Teilnehmer der Malkurse sind in der technischen Ausführung sehr hochwertig.
Hier soll die Abschlussvorstellung der Schule statt finden. Die Leiterin der Einrichtung ist schnell überzeugt, der Termin wird direkt einmal in den Kalender eingetragen. Wir verabschieden uns von Menschen, die sich bereits sehr auf das Projekt freuen.
Allerdings ist Natalia trotz aller Begeisterung immer noch der Meinung, dass unser Projekt nur für 30 Kinder Ihrer Schule in Frage kommt, die anderen sind zu alt oder zu behindert. Eine Lücke zwischen den „Statut der Bildung in der Ukraine“ und der Wirklichkeit wird trotz aller Bemühungen sichtbar.
Das wird eine Herausforderung für uns bleiben. Ich bitte sie mehrfach, trotzdem am ersten Tag alle, alles ausprobieren zu lassen. Mal sehen, ob uns das gelingt.Es ist 11.00 Uhr. Wir haben eine Einladung in das Parlamentsgebäude. Dafür müssen wir unsere Reisepässe einreichen, die durch den Geheimdienst geprüft werden. Erst dann könne wir die Sicherheitsbarriere passieren. Ziel ist es, unsere Idee dem Stellvertreter des Landeshauptmannes vorzustellen, der für Bildung, Sport und Kultur zuständig ist. Er ist der Vorgesetzte von Natalia Ivanivna und an ihm führt kein Weg vorbei. Insgesamt gibt es vier Stellvertreter mit unterschiedlichen Geschäftsbereichen. Vergleichbar ist das, glaube ich, mit einer Art Bezirksregierung in NRW.
Überraschend bekommen wir aber vorher einen Termin beim Gouverneur der Westukraine. Er hat 15 Minuten Zeit für uns. Der Gouverneur ist quasi die Vertretung des Präsidenten in diesem Landesteil. Das stelle ich mir vor wie ein Ministerpräsident bei uns, aber mit wesentlich mehr Macht. (…)
Es erscheint ein drahtiger, sportlicher Typ, Mitte 40 im “Selensky Look”. Werner fragt, was sind gerade die grössten Probleme? Die Antwort: Der Krieg! Und die Tatsache, dass dieser nicht enden wird. Wenn die Ukraine fällt, ist der Westen als nächstes bedroht. Die Armee der Slowakei ist viel zu klein um die Russen aufhalten zu können. Das ist dem Westen nicht ausreichend bewusst. Soweit die politische Botschaft für uns.
Und ganz ehrlich? Er hat vielleicht Recht, wer möchte jemals wieder Luftalarm über Berlin oder Dresden erleben?
Dann folgen Details: In Uschgorod leben 70.000 Binnenflüchtlinge. In einer Stadt die eine Infrastruktur für 110.000 Einwohner hat. Unbegleitete Kinder, die Wohnungsnot, ein nicht regelmäßiger Schulbesuch der über 15-jährigen, das sind die brennendsten Probleme. Das ist knapp, präzise und darum nicht weniger dramatisch. Das ist hier Alltag.
Dann erläutert er uns die Bedeutung der drei Banner, die im Empfangsraum hängen. Zahlreiche Unterschriften sind darauf zu erkennen. Sie sind von Mitgliedern militärische Einheiten, deren Chef er ist. Uschgorod stellt drei taktisch wichtige Einheiten für die Front, eine reguläre Einheit, eine ist eine Art Personenschutzeinheit, wenn Offizielle die Front besuchen. Eine andere stellt als Spezialeinheit die Speerspitze zum Durchbrechen der feindlichen Linien. Sie ermöglichen durch ihren maximalen Einsatz nachrückenden Kampfeinheiten die Operation im Feindesgebiet. Die Mitglieder wurde bereits zum 4. Mal in diesem Krieg komplett ersetzt. Das bedeutet, ihre Vorgänger sind im Einsatz gefallen. Die Unterschriften auf den Bannern sind also mit großer Wahrscheinlichkeit bereits die von Toten. In diese Worte mischen sich Stolz und Trauer.
Wir machen Photos, ein absolut wichtiges Muss! Denn anschliessend werden diese Photos vor allem auf Facebook von allen Beteiligten in die Welt geschickt. Das ist auch ein politisches Instrument. Der Gouverneur muss sich verabschieden, die 15 Minuten sind um.
Wir gehen im Gebäude eine Etage höher zum Termin bei einem Stellvertreter des Landeshauptmannes, zuständig für Soziales und der Leiterin für Speziales (Sonderpädagogik). Dies wird ein langes Gespräch — und das überraschenderweise, weil das Interesse an den pädagogischen Inhalten, Methoden und Möglichkeiten groß ist. Über eine Stunde diskutieren wir das Pilotprojekt an der Schule. Die Qualifikation der Trainer von Soluna ist ihnen sehr wichtig. Welche Anforderungen stellen wir an das Personal vor Ort, brauchen wir Sportler?
Wieder zeigt sich, dass wir sehr unterschiedliche Blickwinkel auf die gleiche Idee haben. Der konkrete Wunsch wird geäußert, ob ich auf einem Din A 4 Blatt die Anforderungen ausformulieren könnte. Unser Plädoyer für die Vielfalt der Workshops mit einer Vielfalt der geforderten Kompetenzen und der Zusicherung einer umfassenden Vorbereitung in einer Trainerakademie wird zunächst zögerlich wahrgenommen. Mir wird klar, diese Art der Zusammenarbeit kennt man hier nicht.
Dafür sprudeln sehr schnell anderen Ideen: wenn das Pilotprojekt erfolgreich ist, sollten es doch auch andere Spezialschulen in der Westukraine durchführen. Circus Soluna wäre einige Jahre beschäftigt.
Die Idee, unser Wissen weiter zu geben und den Aufbau autonomer Strukturen und Kompetenzen mit Material zu unterstützen, kommt sehr gut an. Man will hier qualitativ hochwertigen input und dann möglichst schnell selbst kompetent sein… und eigentlich — besser sein!
Die Mischung aus Offenheit und Stolz gefällt mir sehr.Ein Pressebeauftragter ist die ganze Zeit anwesend. Nur kurze Zeit später wird unsere Idee auf den Seiten der Verwaltung veröffentlicht. Dem Beauftragten gelingt es, alle Beteiligten korrekt zu nennen und und unsere gemeinsam entwickelten Ideen korrekt wieder zu geben. Das sind wir so nicht gewohnt.
Am Abend sind wir wieder in Košice und versuchen unseren Ideen eine Form zu geben. Letztendlich wollen wir ein Erasmus + smal scale partnership Projekt installieren. Unsere Idee dazu muss im Fördertopf abzubilden sein, gleichzeitig müssen alle Beteiligten so schnell wie möglich, verlässlich planen können.
Das dieses Projekt auch ein politisches wird und sein muss, ist nach diesen Tage in der Slowakei und Ukraine klar.
Bella Dachner (Circus Soluna) und Ralf Pauli (kids smile e. V.) eruieren parallel gerade in einem online meeting die Möglichkeiten einer EU Förderung. EU Förderung ist in der Ukraine auch so etwas wie ein Gütesiegel und Spiegel der Zugehörigkeit. Nicht nur deshalb ist dieses online meeting gerade sehr wichtig.
Was bleibt?
Aktuell erarbeiten wir gemeinsam einen Plan, zwei Circus Projekte im Oktober in Košice und Uschgorod zu stemmen. Darüber hinaus wollen wir Kooperationspartner nach Deutschland einladen, an den Projekten hier (z.B. in Monschau Konzen) teilzuhaben, um einen hautnahen Eindruck von der Wirkung und den Rahmenbedingungen des Kindermitmachcircus zu bekommen.
Ob eine Förderung möglich ist, scheint derzeit mehr als fraglich. Insofern benötoigen wir mehr denn je Spenden, um unser Ziel zu erreichen!
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(Fotos: Birger Koch)
Presseberichte zum Besuch im Original:
- https://zakarpat-rada.gov.ua/yevropeytsi-vprovadzhuvatymut-na-zakarpatti-navchalno-tsyrkovu-metodyku-dlia-ditey-z-porushenniam-slukhu/
- http://prozak.info/Suspil-stvo/Mizhnarodni-partneri-zaprovadyat-navchannya-cirkovomu-mistectvu-dlya-uchniv-z-vadami-sluhu-v-Uzhgorodi
- https://tiachiv.rayon.in.ua/news/672336-evropeytsi-vprovadzhuvatimut-na-zakarpatti-navchalno-tsirkovu-metodiku-dlya-ditey-z-porushennyam-slukhu